Rezensionen
Katharina Gröning:
Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit.
Gießen: Psychosozial Verlag 2016
http://www.psychosozial-verlag.de
Über menschliche Würde und Verletzlichkeit: Beratung als Möglichkeits-raum für Selbstreflexion statt als
Instrument für Anpassung und Verwertung
Katharina Gröning hat ein Buch geschrieben, dessen Wert für die Beratung gar nicht zu überschätzen ist.
Sozialwissenschaftliche Fundierung, eine reflektierte ethische Grundhaltung, die die Würde des Menschen in den
Mittelpunkt stellt, sowie ein demokratisches Rechtsverhältnis, das die Rechte der ratsuchenden Person in einem
(mündlichen oder schriftlichen) Vertrag sichtbar macht und gewährleisten soll – all diese Punkte sind wesentliche
Kriterien für eine professionelle Beratungstätigkeit.
Beratung gerät nur allzu leicht in die Gefahr, Erfüllungsgehilfin von Wirtschaft und Staat im Sinne einer
Anpassung, „Normalisierung“ und beständiger neoliberaler Selbstoptimierung zu werden. Etwa die „amtliche“ Beratung,
bei der sozusagen der Staat mit im Beratungsraum sitzt und bei Nicht-Kooperation mit Sanktionen droht (bei Beratungen
durch das AMS oder in Deutschland bei verpflichtenden Beratungen aus Anlass eines Schwangerschaftskonflikts mit der
Frage, ob Abtreibung eine Option sein kann bzw. darf). Ein ähnliches Risiko beinhalten Methoden wie Coaching sowie
systemische und lösungsorientierte Kurzberatungsformate, die ihr funktional-verkürztes Menschenbild kaum kritisch
reflektieren und die auf wenig bis keine theoretische Fundierung zurückgreifen können. Beratung ist keine trivialisierte
Psychotherapie, sondern eine eigenständige Profession mit sozialwissenschaftlicher und philosophischer Basis.
Den GründerInnen der Beratung und Supervision in Deutschland und ihrem methodischen und professionellen Verständnis
wird viel Aufmerksamkeit gewidmet, die Interviews mit Anne Frommann, Hans Thiersch, Kurt Aurin und Gerhard Leuschner
sind lebendig zu lesen. Der Bezug auf Michel Foucaults Konzepte von Biomacht, Gouvernementalität - der (Selbst)Regierung
moderner Subjekte - und sein Bezug von Psychotechniken und Geständnispraktiken auf Pastoralmacht und Scham verdeutlicht
die gesellschaftliche Verantwortung von Berater_innen.
Als konkret hilfreich erweist sich auch die Darstellung sozialwissenschaftlicher Instrumente zum Verstehen, Ordnen und
Reflektieren von Erzähltem, besonders hervorzuheben die Deutungsmusteranalyse und das mäeutische Fragen (die sokratische
„Hebammenkunst“) sowie die Habitusanalyse nach Bourdieu mit seinem fruchtbaren Fokus der machtvollen Verschränkung von
Körper und gesellschaftlicher Ordnung.
Wohltuend im Rahmen der insgesamt sehr klaren Sprache auch die Selbstverständlichkeit der Geschlechterbenennung – ein
gutes Beispiel dafür, dass die korrekte Verwendung geschlechtsbezogener Bezeichnungen keineswegs zu schlechterer
Lesbarkeit, sondern vielmehr zu erfreulicher Klarheit führt.
In seriöser Beratung geht es darum, Möglichkeitsräume für Ratsuchende zu bieten, in denen sie sich selbst reflektieren,
sich selbst besser verstehen können und somit mehr Denk- und Handlungsfreiheit entwickeln. Bedingung dafür ist eine
offene, respektvolle, nicht beurteilende Haltung, die die ratsuchende Person als Expertin für ihr Leben anerkennt.
Notwendig ist die Genauigkeit im Zuhören – auch mit dem „sozialwissenschaftlichen Ohr“, um das Gehörte auf die Lebenswelt
und die gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen zu beziehen. Notwendig ist ausreichend Zeit, erzählen zu lassen
und wirklich verstehen zu wollen im Sinne einer Hermeneutik des Subjekts, basierend auf einer Idee der Selbstsorge
(Foucault) und des guten Lebens. Ebenso zentral ist eine parteiliche Haltung für die ratsuchende Person und nicht ihre
Funktionalisierung, um bessere Anpassung, mehr Flexibilität und höhere Leistung von „Personal“ als „Humankapital“ zu
erzielen (vgl. das politische Konzept differenzierter Parteilichkeit der feministischen psychosozialen Beratung). Nur
unter diesen Voraussetzungen können die Beratungsziele Reflexivität, Selbstbestimmung und Mündigkeit erreicht werden.
Bettina Zehetner