Rezensionen
Angelika Grubner:
Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus.
Eine Streitschrift
Wien: Mandelbaum: kritik & utopie 2017
Welche Mächte formen dich? (Star Wars TM Identities 2015)
Angelika Grubner hat ein leidenschaftliches und eloquentes Manifest zur gesellschaftspolitischen
Verantwortung der Psychotherapie geschrieben – und gleichzeitig eine prägnante Einführung in
Foucaults Macht- und Gouvernementalitätstheorie.
Angelika Grubners philosophische Perspektive erweist sich als enorm aufschlussreich für das
Selbstverständnis und die Selbstreflexion der psychotherapeutischen Praxis. Hier ist noch viel
zu erwarten. Die notwendige Fokusverschiebung vom Individuellen zum Gesellschaftlichen bringt
die Autorin prägnant auf den Punkt: „Es liegt in der Verantwortung der Psychotherapie, sich diesem
Individualisierungsdispositiv ein Stück weit zu verweigern und die gesellschaftspolitischen Ursachen
und Zusammenhänge aufzuzeigen, die dem aktuell ausgemachten Anstieg psychischer ‚Störungen’ zugrunde
liegen. Es geht also um die berufspolitische Aktivität, die krankmachenden Verhältnisse des
Kapitalismus sowohl mit den Leidenszuständen als auch mit den Selbstoptimierungsbestrebungen der
Subjekte in Verbindung zu bringen. Zielführend erscheint es, ein Wissen zu positionieren und zu
streuen, das die gesellschaftlichen Verhältnisse als krankmachende Bedingungen in den Fokus der
Aufmerksamkeit rückt und nicht das vermeintlich individuelle Versagen oftmals benachteiligter
Personengruppen.“ (Grubner 2017, S. 340)
Ganz konkret deutlich wird Angelika Grubners Argumentation an der aktuellen rechtlichen
Verpflichtung zur Psychotherapie von Rehabilitationsgeld Beziehenden Menschen in Österreich,
wo eine gesellschaftspolitische Problematik – die verheerende Arbeitsmarktsituation – als
therapeutische Zwangsmaßnahme individualisiert wird.
Klar herausgearbeitet wird die konstitutive Ambivalenz von Psychotherapie als emanzipatorischer
und disziplinierend-optimierender Praxis, als Führung der Führungen, als Anleitung zur beständigen
Selbsterforschung, Selbstüberprüfung und Selbstbearbeitung. Psychotherapie ist kein „unschuldiger“,
machtfreier Raum, sondern agiert im Spannungsfeld der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von
Flexibilisierung und Normierung.
Als Berater_innen und Psychotherapeut_innen müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir mit
unserer täglichen Arbeit beitragen zum „Zwang zur Freiheit, sich selbst zu optimieren“ (Stefanie
Duttweiler) oder wollen wir kritisch sein gegenüber Verhaltenszumutungen, Normen der allgegenwärtigen
Ökonomisierung in Frage stellen, kleine und große Grenzüberschreitungen fördern und uns auf die
Möglichkeiten eines guten Lebens konzentrieren? Psychotherapie nicht als Training der besseren
Anpassung an krankmachende Verhältnisse, sondern als Praxis der Freiheit – das ist das Anliegen
feministisch-emanzipatorischer Psychotherapie und Beratung.
Aus der Verabschiedung des tyrannischen Bildes individuellen Scheiterns und Versagens und dem
Verlernen des schimärischen Ideals völliger Autonomie, aus dem Bewusstsein geteilter Verletzlichkeit
und grundlegender menschlicher Angewiesenheit aufeinander kann die Utopie einer neuen Solidarität
entstehen.
„Psychische Befindlichkeiten, als Spiegel historischer Machtverhältnisse gelesen, können im
psychotherapeutischen Kontext zu einer politischen Mobilisierung transformiert werden. Denn die
ganz unmittelbaren Affekte der Trauer, des Schmerzes, der Angst und des Nichtgenügens können als
Ausgangspunkte politischen Handelns dienen (…). (Grubner 2017, S. 335). – Beratung und Psychotherapie
als Bürger_innenemanzipationsbewegung?
Fazit: Die Literaturliste ist beeindruckend, die Sprache gewitzt und treffend, die therapeutische
Selbstkritik als die politische Intervention mutig. Ich empfehle diese Streitschrift allen im
psychotherapeutischen Feld Tätigen sowie in Ausbildung Befindlichen als anregende, provokante und
erkenntnisreiche Lektüre, als wertvolle politische Intervention – für eine produktive Streitkultur
im Sinne der endlosen Arbeit an der Freiheit!
Bettina Zehetner